Rückblick auf die 44. Legislaturperiode

2. Aussenpolitik

93.098 Aussenpolitik in der Schweiz in den 90er Jahren
Politique étrangère en Suisse dans les années 90

Bericht: 29.11.1993 (BBl 1994 I, 153 / FF 1994 I, 150)

Ausgangslage

Im Bericht des Bundesrates wird ein aussenpolitisches Konzept der Schweiz für die 90er Jahre in einem veränderten internationalen Umfeld entwickelt. Der Bericht zeichnet einen aussenpolitischen Kurs auf, kann aber detailliertere Ausführungen zu politischen Einzelbereichen nicht ersetzen. Im Einzelnen werden fünf aussenpolitische Ziele behandelt:

  • DieWahrung und Förderung von Sicherheit und Frieden
  • Die Förderung von Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaat
  • Die Förderung der Wohlfahrt
  • Der Abbau sozialer Gegensätze
  • Der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen

Als Mittel der Aussenpolitik werden jene Aktivitäten bezeichnet, welche massgeblich zur Erreichung der genannten Kernziele beitragen. Es gibt folglich eine breite Palette von Tätigkeiten, die hier als Mittel bezeichnet werden, wie der Beitritt zu internationalen Organisationen und die vielfältigen Tätigkeiten, welche die Schweiz in diesen entfaltet, ferner Unterstützungspolitiken gegenüber benachteiligten Ländern und Regionen sowie innerstaatliche Gesetze, völkerrechtliche Verträge und Mechanismen zur Durchsetzung der Ziele; Mittel zur Aussenpolitik sind insbesondere auch die Aussenwirtschaftspolitik und die Integrationspolitik.

Die bestmögliche Interessenwahrung der Schweiz bildet den Ausgangspunkt für den Bericht. Dieser umschreibt eingangs die Problemstellung und die wichtigsten Begriffe wie Aussenpolitik, Unabhängigkeit und Existenzsicherung und ihren Bedeutungswandel in einer zunehmend interdependenten Welt. Daran schliesst sich eine Charakterisierung des internationalen Umfeldes der Schweiz anhand der wichtigsten Entwicklungen und Trends auf westeuropäischer, gesamteuropäischer und globaler Ebene und eine Beurteilung der Stellung der Schweiz an. Im Kern des aussenpolitschen Konzeptes werden die fünf aussenpolitischen Ziele erläutert. Es folgen Erläuterungen zur innenpolitischen Abstützung der Aussenpolitik und zu Fragen von Kohärenz und Koordination sowie zu personellen und finanziellen Auswirkungen des aussenpoltischen Konzepts.

Zum Schluss wird eine Bilanz gezogen und die Prioritäten und Leitideen für die 90er Jahre bezeichnet, wobei Mitwirkung und Mitentscheidung an den wichtigen Schaltstellen der internationalen Politik besonders hervorgehoben werden.

Verhandlungen

NR 07.03.1994 AB 1994, 174
SR 15.03.1994 AB 1994, 241

Im Nationalrat verlangten vier Antragsteller, die Studie zur Überarbeitung an den Bundesrat zurückzuweisen. Die Zürcher SVP-Vertreter Frey und Fehr erklärten im Namen ihrer Fraktion, sie könnten den EU-Beitritt nicht als das strategische Ziel der schweizerischen Aussenpolitik akzeptieren. Das Maastricht-Europa verkörpere einen zentralistischen Bundesstaat, und dieser institutionelle Rahmen sei ungeeignet für die rechtliche und politische Organisation eines multikulturellen Raums, wie ihn Europa verkörpere. Zur Neutralität lege der Bundesrat bloss noch ein "freudloses Lippenbekenntnis" ab. Mit ähnlicher Argumentation beantragten auch die SD-Lega Fraktion und die Autopartei die Rückweisung. Nach ihrer Einschätzung ignoriert der Bundesrat mit seiner Integrationspolitik den im Dezember 1992 geäusserten Volkswillen. Auch Hafner (G, BE) empfahl Rückweisung. Zum EU-Beitritts-Ziel mochte er sich nicht bekennen, weil die Europäische Union, neben ihren Ökologiedefiziten, insbesondere kein Verständnis für direktdemokratische Mitwirkungsrechte habe. Die drei grossen Regierungsfraktionen äusserten sich aber eindeutig positiv zum Bericht. Vollmer (S, BE) stellte mit Befriedigung fest, der Bericht orientiere sich unmissverständlich an der zunehmend internationalen Verflechtung und zeige überzeugend, weshalb staatliche Souveränität mit nationalen Alleingängen nicht mehr gewährleistet werden könne. Nabholz (R, ZH) übernahm die These im Bericht, wonach die nationalen Problemlösungs-Kapazitäten je länger, je weniger ausreichten. Das Nein zum EWR sehe der Bundesrat zu Recht nicht als Rückzug aus der aktiven Aussenpolitik. Erst wenn sich die bilateralen Verhandlungen tatsächlich als untauglich erweisen würden und ein EWR II nicht mehr in Frage komme, werde die Reaktivierung des EU-Beitritts-Gesuchs wirklich aktuell. Oehler (C, SG) erklärte, dass seine Fraktion den EU-Beitritt als das strategische Ziel des Bundesrates zur Kenntnis nehme, ohne sich dafür oder dagegen auszusprechen. Grendelmeier (U, ZH) sprach von Europa als einem Haus im Bau, weshalb die Schweiz nicht darauf warten sollte, dass man ihr später vielleicht ein Plätzchen zuweise. Bär (G, BE) stellte sich mit der grossen Mehrheit der grünen Fraktion hinter die Zielsetzung des Bundesrates. Ohne Euphorie allerdings, weil die europapolitischen Überzeugungen der Grünen von den Vorstellungen Brüssels stark abweichen. Eggly (L, GE) freute sich, dass der Bundesrat trotz EWR-Nein das Handtuch in der Integrationspolitik nicht geworfen habe. Die von den Gegnern angerufene Neutralität sei kein Keuschheitsgürtel, über dessen Schlüssel allein Blocher und seine Mitstreiter verfügten.

Über 60 Einzelrednerinnen und -redner nahmen an der Debatte teil. Die Meinungen gingen nicht nur unter, sondern auch innerhalb der Parteien weit auseinander. Die Gemüter erhitzten sich namentlich an der Frage eines zukünftigen EU-Beitritts der Schweiz. Die Mehrheit sprach sich aus grundsätzlichen oder auch taktischen Erwägungen gegen die Fixierung des EU-Beitrittsziels aus. Blocher (V, ZH) steht dieses Ziel im Widerspruch zum Willen von Volk und Ständen: Bei einem EU-Beitritt würden "Grundsäulen unseres Landes" wie Unabhängigkeit, Selbstbestimmung und dauernde Neutralität eingerissen. Rychen (V, BE) meinte, der Bundesrat hätte besser getan, in aller Gelassenheit die Frage eine EU-Beitritts, die sich heute gar nicht stelle, offen zu lassen. Stamm (C, LU) forderte, dass im Jahre 2000, 2005 oder 2010 eine Volksabstimmung über den EU-Beitritt stattfinden müsse. Neben dem EU-Beitrittsziel war im Nationalrat auch das im Bericht enthaltene Neutralitätsverständnis umstritten.

Die beiden Bundesräte Cotti und Delamuraz zeigten sich am Schluss der Debatte von den Meinungsverschiedenheiten nicht überrascht. Cotti sagte, dass der Bericht kein kurzfristiges aussenpolitisches Programm, sondern eine realistische Vision mit Perspektiven entwerfe. Der Bundesrat sei am 6. Dezember 1992 verpflichtet worden, in der nächsten Zukunft ohne Wenn und Aber den Weg der bilateralen Verhandlungen zu gehen. Bundesrat Delamuraz betonte, das neue Welthandelsabkommen GATT und die EU seien komplementär zu sehen. Das Beitrittsziel stelle die bilateralen Verhandlungen nicht in Frage.

Die Anträge auf Rückweisung des Berichtes wurden unter Namensaufruf abgelehnt.

Im Ständerat lobten mit vereinzelten Ausnahmen die 29 Votanten die aussenpolitische Lageanalyse, die der Bundesrat in seinem Bericht vorgenommen hatte. Rhinow (R, BL) und auch andere kritisierten, dass der Streit über die Frage, ob der Beitritt zur EU ein "strategisches Ziel" der Aussenpolitik sein könne und dürfe, von anderen wichtigen Grundaussagen des Berichtes ablenke. Die Integrationsbefürworter hoben einerseits die grosse Leistung der EU für die Befriedung des europäischen Kontinents nach dem 2. Weltkrieg hervor. Anderseits betonten sie, dass die Schweiz wegen der wachsenden Verflechtung der Staaten und Volkswirtschaften ihre Unabhängigkeit am ehesten wahren könne, wenn sie dort mitentscheide, wo Entscheide mit Rückwirkungen auf unser Land fallen. Cottier (C, FR) meinte, die Schweiz hole Souveränität, die sie mit dem Beitritt zu internationalen Gremien verlöre, durch die Mitentscheidung wieder zurück. Meier (C, LU) meinte, der Bundesrat müsse das Volk dort abholen, wo es stehe. Und das bedeutet nicht nur für sie, dass der Bundesrat in erster Priorität den Spielraum für bilaterale Verhandlungen mit der EU ausnützen soll. Mit dem Volkswillen argumentierten jene, die von einem EU-Beitritt nichts wissen wollten. Sie brachten zum Ausdruck, der Bundesrat trage mit seiner Aussenpolitik der Stimmungslage im Volk keine Rechnung. Schmid (C, AI), für den ein EU-Beitritt weder mit der Neutralität noch mit der Beibehaltung der Volksrechte vereinbar ist, verlangte "eine Anbindung der Aussenpolitik an die Innenpolitik". Die Schweiz habe eher zu viel als zu wenig internationale Verträge abgeschlossen. Für andere Kritiker, die einen Beitritt zu einer föderalistischen EU nicht auf ewige Zeiten ausschliessen wollten, hat der Bundesrat mit seiner Strategie einen taktischen Fehler begangen, womit er sich seinen Handlungsspielraum eingeengt habe.

Legislaturrückblick 1991-1995 - © Parlamentsdienste Bern

 

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